Einführende Worte zu den Arbeiten

 Prof. Dr. Ulrich Seibert

 

Zunächst ein paar biographische Daten:

Edith Seibert kommt aus Stuttgart und hat im Jahr 1934 an der Kunstakademie Berlin Charlottenburg das Studium der freien Malerei aufgenommen. Es war das Jahr des Ermächtigungsgesetzes und des Röhm-Putsches und an der Kunstakademie wurde im “Geiste” der Zeit akademisches Zeichnen gelehrt, Akt und Stilleben und immer wieder Faltenwurf geraffter Stoffe. Es kamen dann die Kriegswirren, Familiengründung (Edith Seibert lernte in Berlin den Kammergerichtsrat und späteren Bundesrichter Dr. Claus Seibert kennen), und dann die Trümmerjahre – und erst in den fünfziger Jahre konnte sie die Malerei wieder aufnehmen und dort anknüpfen, wo sie aufgehört hatte. Aber wie man so schön sagt: auch die geistigen Kinder wachsen, währen sie schlafen und so hatte sie sich auch in dieser schöpferischen Pause fortentwickelt. Sie ging als Meisterschülerin zunächst zu einem gegenständlichen Maler (Meyer-Weingarten), dann zu Helmut Rehme, einem Maler, der ihr das Nichtgegenständliche erschlossen hat. Sie hat in diesen Jahren den langen und dornenreichen Weg von der Figuration zur Abstraktion vollzogen, den auch alle anderen informellen Maler ihrer Generation in gleicher mühevoller Weise zurückgelegt hatten. Die Abstraktion ist ja richtig verstanden nichts Statisches und auch kein Ausgangs-, oder Endpunkt einer künstlerischen Karriere, sondern ein Prozess, der ihr ganzes Leben nie abgeschlossen wurde und per se nie abgeschlossen werden kann, und nach meiner Auffassung setzt abstraktes Malen die Kenntnis des gegenständlichen Arbeitens notwendig voraus.

Der Beginn der abstrakten Malerei wird gerne mit einem Aquarell von Kandinsky auf das Jahr 1910 datiert, obwohl es sich natürlich um eine allgemeine Entwicklung handelte, die an vielen Orten gleichzeitig verlief. Es ist fast schon eine Binsenweisheit, die gegenstandlose Malerei mit der Verbreitung der Photographie in Verbindung zu bringen. Man wollte also der Photographie die Ablichtung des Sichtbaren überlassen, während die Malerei sich der Abbildung des Unsichtbaren zuwendete. Mich überzeugt diese Formulierung nicht ganz, da es bei der abstrakten Malerei keineswegs nur um die Abbildung des Unsichtbaren geht. Treffender erscheint mir folgender Gedanke: Die Malerei sollte keinen Gegenstand mehr abbilden, sondern das Bild selbst sollte zum Gegenstand werden. Die Entwicklung der Malerei zur Abstraktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts war aber zugleich Teil des allgemeinen Bemühens, die künstlerischen Ausdrucksmittel des 19. Jahrhunderts zu überwinden. Und die Malerei war – wie sooft – der früheste und stärkste Ausdruck eines Zeitgefühls, das wir in ganz ähnlicher Weise etwa bei Sergej Djaghilev und dem Entstehen des modernen Balletts, bei der Zwölf-Ton-Musik von Arnold Schönberg, in der Literatur bei Rilke, James Joyce und anderen beobachten können.

Die Malerei des 20. Jahrhunderts hat sich dann in vielen parallelen Strömungen und Stilrichtungen entwickelt, die zum Teil nur eine kurze Zeit auftraten, wie etwa der Expressionismus und der Kubismus. Die gegenstandlose Malerei hat sich aber nach zaghaften Anfängen nach dem Zweiten Weltkrieg als ständiges Element fest etabliert und ist heute die wohl bedeutendste Ausdrucksform der Malerei der Moderne. Innerhalb der abstrakten Malerei wieder Kategorisierungen vorzunehmen, fällt nicht leicht; man würde die Bilder von Edith Seibert wahrscheinlich dem “art informel” zuordnen, die von ihren Zeitgenossen Hartung und Wols geprägt wurde. Eine andere Entwicklungslinie sei mit dem “abstract expressionism” der Amerikaner Jackson Pollock und William de Kooning erwähnt. Von de Kooning stammt der charakteristische Satz: “Die Verganenheit beeinflußt nicht mich, ich beeinflusse die Vergangenheit.” Dieses sehr selbstbewusste Wort hat – jedenfalls so wie ich es interpretiere – einen sehr treffenden Kern: Die gegenständliche Malerei der vergangenen Jahrhunderte können wir heute, da wir die abstrakte Malerei gesehen haben, nicht mehr mit den gleichen Augen und der gleichen Unbefangenheit betrachten, wie die Menschen damals, und gegenständliche Malerei ist heute nicht mehr in der gleichen Weise möglich wie damals.

 

Im Gegensatz zum Action painting der abstrakten Expressionisten sind die Arbeiten von Edith Seibert zwar auch frei improvisiert und intuitiv – aber zugleich doch sehr durchdacht und in vielen Schichten nach und nach aufgebaut.  Ihre Malerei wurde von Kritikern immer wieder als “lyrische Abstraktion” bezeichnet. Dieses Etikett passt zumindest auf ihre Werke der späteren Jahre nur noch bedingt. Ihre Bilder sind herber geworden. Sie finden hier keine glatte, gefällige Ästhetik, jede Farbe ist in sich gebrochen, ist differenziert und vielschichtig. Die Schönheit dieser Bilder erschließt sich erst bei längerem Hinsehen, sie nutzt sich dafür aber auch bei sehr langem Betrachten nicht ab.